Zürcher Kindheit.

1950, 4-, 5jährig, ist das Kind aus dem tiefen Thurgau angekommen in Zürich, mit einer alleinerziehenden Mutter, die als Fotografin eine Stelle fand, und einer 1jährigen Schwester. 


Der Wald.
Ich wuchs in der Stadt Zürich hinter dem Bucheggplatz, beim Allenmoos auf und hatte gleich zwei Wälder zur Verfügung: im Osten den Zürichberg- und Adlisbergwald, der vom Irchel bis zum Zoo und hinüber nach Gockhausen reicht, im Westen den Waidwald, der sich vom Friedhof Nordheim über den Bucheggplatz bis fast nach Höngg erstreckt. 
Der Zürichsee bedeutete mir wenig, es war der Wald, der mich anzog, es waren diese beiden Wälder, die mich zum Umherstreifen einluden, zum ungestörten, von all den Baum- und Strauchgeschöpfen, Wegkrümmungen und -kreuzungen, von den Waldhütten mit ihren Vorplätzen angereicherten Träumen. In frühen Jahren vertrieb mich da schon mal ein furchtbarer Einfall, indem ich mir lebhaft vorstellte, die Bäume seien die Haare eines Riesen, und es könne eine übergrosse Laus daherkommen, deren Anblick allein schon genügen würde, mich vor Schreck erstarren zu lassen. Es war so weit ich mich erinnere das einzige Mal, dass ich so rasch aus dem Wald rannte wie ich nur konnte. Nun, der Wald war eine willkommene Abwechslung zum Alltag des Stadtkindes - meine allein erziehende Mutter war berufstätig, ich besuchte bis zwölf in der Kindergarten- wie der Primarschulzeit den Tageshort. Dies beförderte meine Aufenthalte im Wald, es verschonte mich vor einem übermässigen Familienleben und schenkte mir ein Verlangen nach Zwiesprache jenseits des menschlichen Geheges, das den in Aufzucht befindlichen Heranwachsenden oft so ungebührlich bedrängt. Der Wald wurde für mich zur sagenwebenden Lichtung in einer Art Obdachlosigkeit, die ich nie als Mangel, sondern immer als grosse Freiheit verstand, voller Schattengestalten und Verheissungen hinter Wegkrümmungen und auf lockeren Gängen über Waldlichtungen. 
Der Wald war in meiner lange währenden Pubertät der bevorzugte Ort für Liebesgespräche - solche, die ich mit einer anwesenden weiblichen Person führte, aber noch mehr solche, in denen ich die Anwesenheit dieser Person nur imaginierte. Letztere Gespräche waren einiges erhebender als erstere, denn erstens bot mir niemand Widerstand oder enttäuschte mich mit einfältigen Repliken, und zweitens konnte ich meiner Lust zur Projektion freien Lauf lassen. Überhaupt war mir der Wald immer ein Ort freilaufender Projektion, träumerischer Inszenierung inmitten dieser nur selten von irgendeinem Tier begangenen Pflanzenwelt. Meine Kenntnis der selben hielt sich und hält sich denn auch in engen Grenzen. Mich interessierte nicht, vor welcher Art Baum ich stand, mich interessierten nur die Empfindungen und Gedanken, die ich beim Durchstreifen des Waldes hatte.
Was ist denn im Wald ganz anders als am Gestade des Sees, auf Höhenwegen am Berg oder unterwegs im Feld? Im Wald ist für uns kein Horizont! Im Wald ist die nächste Wegkrümmung, ist die Lichtung vor dir nicht eingebettet in den alles einordnenden Gesichtskreis, nein: der Raum wird ausgefüllt von der Szene, die du vor dir hast und die dich umgibt, und die Zeit teilt sich dir nur mit im Schatten, den die Bäume werfen, nicht am Stand der Sonne selbst. Das Erlebnis des Waldes besteht in der Szenenfolge, die deine Seele prägt und in deren Wechsel wie in einem Kaleidoskop das Universum sich laufend in neuer, überraschender Konstellation darbietet. (Blogeintrag vom 30. März 2016.)

Der unmittelbare Lebensbereich des 4- bis 12jährigen: ob Oerlikon in der Senke zwischen den Wäldern:

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Die Mutter war berufstätig, die kleine Schwester brachte sie täglich in die Krippe in Wipkingen, das grössere Schlüssel-Kind besuchte Schule und Tageshort in der Nähe. Für das Kind war das eine sehr gute Zeit: vaterlos, war es sein eigener Chef. Das sollte sich im Alter von 10 ändern. Nicht zur Freude des Kindes. Hier Einzelheiten zu seinem unmittelbaren Ausgangsrayon.

Das Kind hatte Glück. Aus einem rückständigen Thurgauer Kaff (Amriswil) kam es in die fortschrittliche Stadt Zürich. Wo anders hätte seine früh verwitwete Mutter, sie war grad mal knapp 24, weder Arbeit noch eine Wohnung und tagsüber günstige Plätze - Krippe und Hort - für ihre Kinder gefunden, ja es bestand die Gefahr, dass ihr die Kinder weggenommen würden - die halbe Verwandtschaft lauerte drauf. Sie zog es durch.

Als ich neulich, mehr als 60 Jahre später, vom Käferberg über den Friedhof Nordheim und den "fallenden Brunnenhof" kommend schliesslich beim Allenmoos durch die immer noch fast vollständig erhaltenen Kulissen meiner Kindheit flanierte, erschloss sich mir erneut, dass ich meine stabile halblinks-liberal-urbane Grundhaltung der frühen Prägung durch dieses Zürcher Kleinbürger-Ambiente verdanke. 

Die Wohnung.

Das Haus, in dem wir von 1950 bis ca. 1959 wohnten, Ecke Hofwiesenstrasse-Allenmoosstrasse - links unten in der untersten Wohnung im Parterre, mit dem Balkon sozusagen direkt auf die Strasse. Dem etwas träumerischen Kind fiel damals die Enge seines Milieus nicht auf. 

Aufnahme PK November 2017, a7rii + Loxia 35.
Aufnahme PK November 2017, a7rii + Loxia 35.

Die schmutzigen Fassaden der Wohnblöcke von damals haben mich dann allerdings etwas erschreckt.

Das Schulhaus.

Mein Primarschulhaus mit Kindergarten, das Schulhaus Allenmoos, erstrahlte dagegen in voller Schönheit und Eleganz. 

Das Gebäude hat drei Ebenen: zuunterst der Kindergarten, dann die 1. bis 3. Klassen (unterer Pausenplatz, hier im Bild) und 4. bis 6. Klassen (oberer Pausenplatz, weiter oben). 

Überaus störend sind freilich die Parkplätze für Autos auf dem unteren Pausenplatz! Wie konnte sich diese Lehrerschaft zu einer solchen Verschandelung hinreissen lassen! Wie konnten die Behörden, Schulamt und Polizei, dem zustimmen! 

Ein Segen für die Seele des Kindes war die übersichtliche Aufteilung des gerade mal zweistöckigen Schulhauses Allenmoos. Da sah es in der Stadt manchmal ganz andere, autoritär seelenerdrückende, massive Schulgebäude und war froh, hier zunächst in den Kindergarten und dann zur Schule gehen zu dürfen.

Der Hort.

Erstaunlich war's schon, den Hort von damals im selben Gebäude in der selben Funktion wiederzufinden - nun erweitert um einen Sprachheilkindergarten und mit verändertem Umschwung.

Die Stadt.

Als es mich 1949 als Vierjährigen nach Zürich an die Hofwiesenstrasse verschlug, weideten im freien Feld nebenan noch die Kühe, und ich erinnere mich, dort beim Rübenputzen geholfen zu haben. Der „Fallende Brunnenhof“, so hiess das Bauerngut an der Kreuzung Hofwiesenstrasse/Wehntalerstrasse, wurde dann bald zu einem Restaurant, im nahen, recht ansehnlichen Feld entstanden zwei- und dreigeschossige Wohnblöcke, dazu kam entlang der Wehntaler- und Hofwiesenstrasse eine Überbauung mit Wohnungen, Geschäften, Büros und Praxen. 

Das Tram, das waren damals noch jene bimmelnd durch die Strassen ruckelnden Gehäuse, deren offenen Ein- und Ausgänge nicht mit Türen, sondern mit Gestängen gesichert waren, weit entfernt von den sanft rollenden Bänderschlangen, die heutzutage als langgezogene Innenräume durch die Stadt gleiten. Unterwegs im Tram, aber dann auch auf der Strasse und schliesslich im Tea Room mit Mutter und Schwester oder im Freibad gehörte schon das Kind ganz selbstverständlich zur Stadtbevölkerung. Ob Erwachsener oder Kind, ob reich oder arm, ob schön oder hässlich, aufs Tram warten alle gleich lang, und vor allem: Keiner bedrängt den andern mit persönlicher Neugierde, beäugt wird höchstens die Erscheinung, die Person interessiert nicht weiter. In der Stadt, mit dieser Gewissheit wuchs ich auf, ist jede und jeder eine Abwandlung des einen Wesens: der Städterin, des Städters.

So prägte im Kind die alle Verschiedenheiten in sich aufnehmende und neutralisierende Stadt dessen Vorstellungen vom Zusammenleben in der Gesellschaft.
Die Orte in der Ostschweiz, in die ich in die Ferien geschickt wurde, schienen mir da kaum grösser als ein Stadtquartier, bewohnt von knorrigen, hölzernen, behäbigen Zeitgenossen, naturbelassen sozusagen mit ihren Süchten, Lastern und Nöten, mit ihren kleinen Freuden und engstirnigen Meinungen, die sie immer wieder und zum Teil ganz wild gegen einander aufbrachten. Es war halb Stadt, halb Land, was das Stadtkind da antraf, das Ländliche noch halb lebendig von früher und doch schon am Zerbrechen, es ging vorwärts in eine noch unbekannte Zukunft, und gerade deshalb blieb vieles tief im Innern verstockt - ganz anders als im fliessenden Leben der Stadt, in dem die Jungenkinderseele leichter Dinge mitfloss.
 So individuell dieses Seelenleben auch daher kam, es wurde durchwirkt vom Stadtleben, seinem Grundstoff, auf dem es dann seine eigenen, etwas zufälligen und willkürlichen Muster bildete.