Au tableau noir - an der Wandtafel.

vorüberziehende Denkbilder...  au passage ces images et réflexions...

September 2022.

Die Erschöpfung

 

Ihr Lebenskreis schrumpfte. Sie streckte die Hände zum Geländer aus, auf der Plattform, Halt suchend. Ihr Blick ging auf das Tal, das sie hatte wiedersehen wollen, wie die anderen Täler und Dörfer hier, ihre Heimat. Ihr blieb nichts anderes. Ihr früheres Leben war weg. Sie hatte keine Kraft mehr. Nur noch das Nötigste vermochte sie zu tun, im engsten Umfeld. Es blieb ihr die schale Erinnerung an Früheres. Sie griff zum iPhone, immer wieder saugten sich ihre müden Augen in die vorbeiziehenden Sätze, in die Bildchen, hielten sie sich an dieses und jenes Video, aber all das blieb leer. Die Welt rundum kam ihr abhanden, alles wurde gleichgültig. Hin und wieder ein fades Bedauern: „Verzeih mir!“ Eine langjährige Beziehung hatte sie zerbrechen lassen. Über lange Zeit hatte sich der Unwille dagegen in ihr angesammelt, während sie die Liebesworte noch sagte, die Liebesgebärden noch ausführte, eine Pflichterfüllung ohne Gefühl, bis auch das nicht mehr ging, bis ihr der Arm auch da niedersank und sie sich schliesslich nur schon ob des Gedankens daran erbrechen musste. Sie hatte beide Hände am Geländer, die Augen aufs Tal gerichtet, aber die Heimat sprach sie nicht an, es erging ihr damit wie mit der verlorenen Beziehung: Alles Leben war daraus entwichen. Da zog ein Trauerweh durch das verengte Herz. 

Nie hatte sie ein schönes gültiges volles Ja zu ihren Lebensverhältnissen sagen können. Immer war da ein Aber. Zwar hatte sie Lebensfreude, wie sie jung und schön war, eine Ausnahme-Schönheit sogar, doch da war dieses Aber. Sie hatte geheiratet, aber sie brauchte Liebhaber. Sie hatte Liebhaber, aber sie brauchte einen nach dem anderen. Und als es dauerhaft hätte werden können, stieg sie aus, denn das Aber war immer grösser geworden, bis es schliesslich das Ja, das sie noch hätte sagen können, ganz unter sich begrub und so sich selber jeglichen Inhalts beraubte. Da war die Lebensfreude weg. 

Unten in der Stadt im Mittelland blieb noch, anders als hier in den Bergen, der Trost des Kulturkonsums. Leicht, anstrengungslos, fährt die Musik ins Gemüt, bewegt sie einen und trägt jene, die das versunkene Hören mimen. Das ist allemal geschenkt. Klangwelle um Klangwelle klingt die Traurigkeit ab, das leidende Ich verdünnt und zerfasert sich, löst sich auf. Doch eine seichte Stunde ist es, auch wenn ihre Wirkung draussen noch anhält, denn die ätzende Trauer des Alltags kehrt wieder. 

Sie scheute Konfrontationen, ging Umwege, suchte Kompromisse. Nur nicht Täterin sein in den Augen anderer! Heimlichkeiten halfen ihr über die Unzufriedenheit hinweg, die sie in Kauf nahm. Aber ihr schlechtes Gewissen wuchs. Sie wusch sich rein mit ihrem Mitgefühl für Menschen, denen es nicht gut ging, gab auch Geld, suchte andere dazu zu bewegen. Ihren Letzten verliess sie in grosser Depression, als Opfer ihrer seelischen Erkrankung. Schwere Müdigkeit, Atemnot, bis hin zur Einlieferung in den Notfall, Gang zum Psychiater, Selbsteinlieferung in eine Klinik, aus der sie dann aber gleich wieder raus wollte. Da war alles zu harmlos. Sie fand dann einen anderen Weg, die Sache mit ihrem Letzten als Opfer zu beenden. Es ging ihr noch schlechter, sie erbrach sich. Am andern Tag war sie weg. Sie fuhr in die Berge, wo sie her kam, auf der Suche nach Heilung. 

Sich gesund schrumpfen! Das wollte sie. All das Verlogene, diese Verbiegungen und Verdrehungen, abstreifen! Den Druck der Ansprüche anderer an sie hinter sich lassen, die „Fremdbestimmheit“, wie sie es nannte. Sie begann den Rückzug auf den engsten Kreis der Familie und zwei, drei Freundinnen. Sie würde jetzt „diesen Weg“ gehen, sagte sie sich, fast beschwörend, „sich selbst sein“, „selbst- bestimmt“. Die ältere Schwester bestärkte sie dabei. Sie lebte im europäischen Ausland und anerbot sich, zu ihrer Unterstützung herzureisen. Ihre Dominanz, die sie oft ärgerte, war ihr jetzt willkommen, denn ihr eigener Wille gab ihr zwar den Weg in den Konturen vor, aber für das Gestrüpp des Alltags brauchte sie nun Rat und Anweisung. Immer noch hatte sie die Versorgung eines schwer kranken Mannes mitzutragen, wichtige Entscheide, wie es weitergehen würde, standen aus, ihr eigenes weiteres Leben war da mitbetroffen. Auch da wollte sie schrumpfen! Endlich allein zurück in die Wohnungen in der Stadt, die sie all zu lange hatte mit dem Kranken und anderen teilen müssen. Um dem zu entfliehen, war ihr der letzte Mann der Seitenreihe mit seiner Wohnung recht gewesen, jetzt glaubte sie ihn nicht mehr nötig zu haben. Laufpass! Wie ein Schutzschild legte sich ihre überaus sichtbare Krise über diese hart und kalt durchgeführte Trennung. 

Auch ihre Intimität war schliesslich verödet. Die flauschige Stimmung der animalischen Engel wich einer sterilen Wiederholung der immer selben Lustpartituren. Und wenn es ihm dabei nicht nur ums blosse Kommen zu tun war, sondern ihn auch nach schönen Worten verlangte, erhielt er lieblos Aufgewärmtes. So, wie sie neben ihm lag und sich schliesslich schlafend stellte, hatte sie sich längst von ihm verabschiedet. Oft ergriff ihn da eine lähmende Trauer, denn etwas, das ihm zu Herzen ging, war am Sterben. 

Mit dem Bruch kam die Zeit der Verhärtung. Sie wollte keinen Kontakt mehr mit ihm. Ihr eigener Weg, ihre Autonomie! Darum ging es ihr. Als die Pflegerin, eine ausgebildete Krankenschwester aus Osteuropa, ihre Stütze auf dem eigenen Weg, aufgrund eines Vorfalls in der Familie unvermittelt abreisen musste, wurde sie für einen Augenblick heimgesucht von Erschütterung und Zweifel. Und ihr Herz verhärtete sich abermals. Ihr blieben bis auf eine nagende Verbitterung kaum mehr Gefühle in dem nun ausgetrockneten, zerfaserten Sinngestrüpp ihres Lebens, schon gar nicht für den Kranken, für den sie, wie sie jetzt allmählich bemerkte, alles aufgegeben hatte und nun auch sich selbst mit zäher, verzweifelter Verbissenheit aufzugeben sich anschickte. Ihr Elend nahm zu, und je mehr es zunahm, desto entschlossener und verbissener begab sie sich da hinein. 

 

 

Voilà qui s'efface!

août 2019 - Puls 5 - a7riii, can 17 mm Tse
août 2019 - Puls 5 - a7riii, can 17 mm Tse

Actualité. Das Neueste.

Aus aktuellem Anlass:

ISBN 3-906 609-04-9, 1989 by Köppel-Verlag, Baden, CH, 127 Seiten (Skript einer meiner Vorlesungen in Vergleichender Literaturwissenschaft  an der Universität Zürich.)
ISBN 3-906 609-04-9, 1989 by Köppel-Verlag, Baden, CH, 127 Seiten (Skript einer meiner Vorlesungen in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.)

Eine Buchbesprechung nach 30 Jahren wird demnächst folgen.


Vergeblich versuchte ich damals, über Suhrkamp mit Handke ins Gespräch zu kommen. Handke hat, falls er's überhaupt zur Kenntnis nahm, gewiss keine Freude an meinem Einstieg gehabt. Mein Einleitungstitel lautet: "Das restaurative Erzählen und seine inständige Zersetzung." Dazu schreibe ich: "Restaurativ wird hier ein Erzählen genannt, das versucht, hinter eine in ihm selbst akute, das Subjekt zersetzende und die Erzählung dezentrierende existenzielle Erfahrung zurückzugehen und vermeintlich glücklichere frühere Verhältnisse zum Zwecke der Selbstbehauptung des Subjekts in der Erzählung wiederzugewinnen. Infragegestellt wird diese Vorhabe durch die Einsicht in ihre Haltlosigkeit. Der Handke-Text wird daher als Ort der Auseinandersetzung zwischen dieser Einsicht und dem Selbstbehauptungswillen des Subjekts aufgefasst."


China und die künstliche Intelligenz. Eine illustre Runde. - La Chine et l'intelligence artificielle - une discussion de très haut niveau. 

11 octobre 2018. Wöschhüsi, Berne, Matte. Voici le lien vers le résumé de Jacques Pilet. 

Photos und Text.

Man kann sich so ein Bewusstsein vorstellen wie bei einem Plattenspieler als einen Lesekopf, der die Spur einliest, die das Lebewesen in seinem Biotop zieht. Dabei gibt sich die Photographie zu denken als verstärkende Apparatur, idealiter parallel geschaltet zum durchgängig begleitenden Schreiben, mit dem ich seit Ende 2002 97 Carnets gefüllt habe. „So ein Bewusstsein“ kann einem gelegentlich auch vorkommen wie eine löchrige Badewanne, die das Wasser nicht halten kann, darin sich dann hin und wieder mal baden liesse: „Stau dies, und die Zeit tritt aus wie ein See“ (Musil, Paradiesreise). Photos und Notizen sind Behelfe gegen die Bewusstseinslöcher. 

Mag sein, dass oft die selbe Platte auf dem Teller liegt, der Lesekopf die selben Rillen wieder abtastet, und doch: jedesmal ist’s das Selbe in anderem Licht, anderem Tonfall, anderer Stimmung eben - und welches Glück, wenn dann unerwartet eine nämliche Stimmung wiederkehrt. Ist es die nämliche? Kommt’s drauf an? Sie beglückt als ein Leuchten, das ins abgesunkene Leben hinein strahlt und aus dessen Halbdunkel zurück, in einer Dichte, als füllten sich alle Räume nun mit dem Schein schönen Sinns. Dem erinnernden Auge gibt das Photo da Anblick und Gestalt. Oft hörst du Musik, wenn die Bilder an dir vorbeiziehen. Tragende Rhythmen. Da bist du ganz auf Absonderung aus. Wie einer, der sich eine Klangstube eingerichtet hat mit dem besten Plattenspieler und der besten Lautsprecheranlage, um immer und immer wieder die selben Symphonien zu hören. Nur dass in deinem Falle die Photos und die hinführenden Texte von dir selbst sind. (Doch bedenke: Was wärst du ohne die Autoren! Duras, Johnson, Handke, Jirgl derzeit.) Je me ressource dans ma baignoire à sens à moi. Ganz allein bist du da freilich nicht immer, doch genügt dir die eine Gesellschaft. 27. Januar 2018

L’ambiance est un lac où l’âme prend son bain, c’est un étang, une eau dormante. Le temps y coule avec lenteur, les heures y sont plus larges que d’habitude, c’est un flux doux qui se répand en profondeur dans les recoins des scènes qu’il vient habiter pour une petite éternité. Mes photos sont là pour en garantir la survie, me permettant ainsi d’y retourner. Quand je les prends, cet acte même introduit dans les scènes où je me trouve l’idée de leur disparition prochaine et l’y inscrit, acte qui retient ce qui est destiné à disparaître, et le retient pour qu’il soit ressuscité, que le vécu soit revécu - car jamais le vécu n’est-il suffisamment vécu, puisque son sens reste voilé, cependant qu’on sent bien qu’il veut paraître au grand jour. Dans la photo, il continue à s’y soustraire, tout en appelant à sa lecture et sa relecture. (PK, 16 novembre 2018.)

L’existence cherche ses bons reflets, ceux dont elle a impérativement besoin, ceux qui lui rendent la lueur de ce qui lui échappe. Elle les trouve dans ses photos, dans ses écrits, dans ses mélodies, les uns dans les autres. Voilà la raison d’être de ce site. 

Blick aus meinem Berner Fenster. 

23. Januar 2018, abends, Canon EOS 5 Mark III, Canon 70-200.
23. Januar 2018, abends, Canon EOS 5 Mark III, Canon 70-200.
Die Berner Alpen - vom Kasino bei der Kirchenfeldbrücke in Bern - aus: Baedekers Schweiz, Leipzig 1913.
Die Berner Alpen - vom Kasino bei der Kirchenfeldbrücke in Bern - aus: Baedekers Schweiz, Leipzig 1913.

Aktuelle Lektüren:

 

Hauptlektüre: Marguerite Duras, Oeuvres complètes, dans l'ordre chronologique.

Nebenlektüren: Peter Handke, Die Obstdiebin. Uwe Johnson, Jahrestage.

Siehe die Rubrik "Über Texte". 

Notizblatt zur Obstdiebin, erste Seite.

Zum Vergrössern anklicken.

Dieser Handke-Text spiegelt das Schreiben in seinem Erzählten, das nur um dieses Spiegelns willen ist: kein Woher und kein Ziel im Referenziellen. Diese einfache Gegebenheit des starken Schreibens ist den durchschnittlichen Rezensenten (NZZ, FAZ, SZ und so weiter) so wenig geläufig, dass sie mit ihrer Seltsam- und Wundersam-Prosa unbemerkt am Text vorbei schreiben. (18. Feb. 2018)

Notizblatt zu Le ravissement de Lol V. Stein.

Zitate aus Oeuvres complètes, Pléiade, t. ii.

Bildthemen: Grenze.

Auch zu Zeiten des fast unsichtbaren Zolls, zumal zu Fuss, mit dem Rad oder per Bahn, ist die Grenze trotz allem regen Austausch eine fassbare Realität, in der die mentale Welt eines Rafzers, Neuhausers, Schaffhausers oder Rheinauers sich überindividuell von derjenigen eines fussgängig entfernt lebenden Lottstetters oder Jestetters fast schroff unterscheidet. 

La frontière invisible - die unsichtbare Grenze.

en longeant la frontière entre l'Allemagne et la Suisse (5 janvier 2018, a7rii + Sigma 50mm) - frontière invisible, mais bien réelle et effective pourtant, séparant l'Union européenne du reste du monde: hie Neuhausen CH, da Jestetten D.
en longeant la frontière entre l'Allemagne et la Suisse (5 janvier 2018, a7rii + Sigma 50mm) - frontière invisible, mais bien réelle et effective pourtant, séparant l'Union européenne du reste du monde: hie Neuhausen CH, da Jestetten D.

Der durch heftige Regenfälle angeschwollene Bach in der Bildmitte bildet hier die Grenze, die drüben ein Stück Deutschland so in Schweizer Gebiet einfasst, dass das deutsche Territorium nur über die eine Ausfallstrasse nach Westen mit dem übrigen Deutschland verbunden ist. Wer sich hier in der grünen Zone bewegt, braucht gute Ortskenntnisse, um zu wissen, in welchem Land er sich gerade befindet. Wie also die Grenze photographieren? Entweder über ihre Insignien - oder über ihre Auswirkungen. Keins von beiden ist hier zu sehen.

La frontière naturelle, donc évidente, entre l'Allemagne et la Suisse, c'eût été le Rhin. Neuhausen, Schaffhouse alors, y compris le Klettgau helvétique, appartiendraient à l'Allemagne. Mais cela s'est passé autrement. Notez qu'en Suisse alémanique, c'est aux frontières que la xénophobie bat son plein.... Die engste Anlehnung an den Mitmenschen ist dessen Ablehnung. (Robert Musil, MoE.)

29 décembre 2017, a7rii, Loxia 35.
29 décembre 2017, a7rii, Loxia 35.

Les chutes du Rhin, sous le ciel gris de cette fin de décembre.

Le récit. Comme la raconter, cette histoire en marche? Quelles personae? La maîtresse de secondaire à la retraite, à Bienne? Mariée à un musicien? Mère d'une fille de 30 ans... Liée clandestinement avec un type de Bâle...