Photo: PK, Anfang April 2017.
Photo: PK, Anfang April 2017.

Dies ist das Web-Portal von

(Wolfgang) Peter Köppel, Jahrgang 1945, 

Dr. phil., 1981 habilitiert in Zürich in Neuerer französischer Literatur und Vergleichender Literaturwissenschaft,

20 Jahre Inhaber und Geschäftsführer einer Zürcher Kommunikationsagentur (Wirtschaft, Politik, Bildungswesen, Forschung), derzeit mit unbelasteter Agenda unterwegs. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Engagements:

Stiftung Sprachen und Kulturen CH, Präsident. 

Zur Herkunft siehe auch: Zürcher Kindheit.

Ansprache vom 18. Oktober 2015

in der Alten Schule Jestetten, anlässlich meines 70sten Geburtstags. 

In der Zeit und mit der Zeit.

 

Als Kind wächst man in die Welt hinein, im Alter wächst man aus der Welt heraus. Ersteres ist eine Mehrung, letzteres ein Schwinden, eine Mehrung vielleicht doch gelegentlich im Durchsichtiger-Werden, wie ein Stück Stoff durchsichtiger wird mit dem langen Gebrauch… Man kennt sich selbst ja allmählich, und doch: Wohl dem, der sich noch überraschen kann!

Als Kind mit meinem Grossvater Christoph Köppel von Romanshorn nach Egnach unterwegs, zur Luxburg, wo er einst als Zollbeamter seine Station hatte, spürte ich, wie da eine Welt verging, wie er diese Spaziergänge unternahm, um das Schwinden dieser Welt zu begehen, während ich, das Stadtkind aus Zürich, in eine ganz andere, leidenschaftlich pulsierende Welt hineinwuchs. 

Hinein, sage ich, denn ich kam irgendwie von draussen und blieb immer auch ein bisschen draussen. Nicht gut! Schickt sich nicht jede, jeder an, die eigene Welt abzuwerfen, um voll dazuzugehören, um glücklich in der Welt aller aufzugehen, die schliesslich der Boden allen Seins zu sein scheint, die Bühne, auf der alles Zeitliche stattfindet?

Doch da war stets und oft im dümmsten Augenblick dieser Abstand des träumerischen Kindes zur übrigen Welt - und ein nicht wegzukriegender Vorbehalt: Ich mache mit,  a b e r  - ich kann nicht ganz für voll nehmen, was ihr da treibt und von mir verlangt. Diese beharrlich wiederkehrende Distanz war später ein Grund, Philosophie zu studieren. Meine erste Arbeit als Student schrieb ich über René Descartes Meditationes, jenen Text aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, mit dem offiziell das Denken der Neuzeit eingeleitet wurde. Würde einer heute einen solchen Text veröffentlichen, man würde ihn für verrückt erklären. Denn Descartes entwickelt in den ersten drei von sechs Meditationes den Gedanken, es könnte ja sein, dass es die Welt mit all den Leuten und dem Zeugs um einen herum gar nicht gibt. Dass man sich das nur einbildet bzw. ein böser Gott einem das einflüstert. Ich bin von diesem Gedankengang nie mehr wirklich losgekommen.

Doch da war auch jene Urverletzung, die noch jede und jeder von uns sein Leben lang austragen muss: dass ihre, seine Intimität im Innersten, im Kern, vom anderen heimgesucht und entfremdet wird: denn die Art, wie ich kommuniziere, sogar die Inhalte, die ich kommuniziere, auch mit mir selbst, sind schon von anderen vorgeprägt, von der Mutter, den Eltern, deren Umgebung. Bis hin zur Sprache, in der ich auch heute noch kein Wort zu mir sagen kann, ohne dass die ganze Tradition mit ihrer Sprachflut und ihrem Sprachschutt sich in meine Sätze hinein wälzt.  

Die Realität könnte ganz anders sein, als sie sich dir darbietet, sagt der Zweifel. Du bist nur ein kleiner Durchlauferhitzer eines Jahrtausende alten Redeschwalls, sagt die Tradition. 

Da gibt es nur eins: die Rückeroberung des Eigenen in der Sprache! Daher dann meine andere Studienrichtung neben der Philosophie: Literatur und Linguistik. Meine Lust aufs Französische, das wie ein native speaker zu sprechen und zu schreiben ich immer bemüht war. Die Aneignung der zunächst fremden Sprache als die Aneignung der Sprache überhaupt, im Willen, dem Anderen, der der Sprache sein Gepräge gegeben hat, den Meister zu zeigen. 

Aber was waren diese mentalen Scharmützel gegen die Erfahrung ihrer letztendlichen Hinfälligkeit und Vergeblichkeit, d.h. ihrer Sinnlosigkeit im ganzen? Weder ist mir ein gültiger Sinn vorgegeben, sagte ich mir, noch bin ich souverän genug, den Sinn meines Tuns selbst zu produzieren: Ich kann nicht anders, als auf vorgegebene Sinnbausteine zurückzugreifen, an denen immer ein dunkler Rest bleibt, der mein Tun auf eine Weise mitbestimmt, die mir nicht zu Willen ist. Da ist immer die gesellschaftliche Tradition und Konvention mit am Werk, in die ich hineingeboren bzw. -geworfen wurde, da sind immer schon diese unvordenklich werkelnden, mehr oder weniger tumben, mehr oder weniger hellen anderen, die meine Welt mit ihren Illusionen und Obsessionen vorgeprägt haben und an denen ich selbst mich wieder abarbeiten muss. Nicht zu einem guten Ende, sondern der blossen Selbstbehauptung wegen. 

Der Satz vom Weg, der das Ziel sei, gewann hier die ganze Wucht seiner Ironie, insofern es nur noch Wege gab, aber keine Ziele mehr jenseits dieser Wege. Zum Sinnbild dieser existentiellen Grundsituation wurde mir als 19jährigem an der schweizerischen Landesausstellung in Lausanne 1964 ein Kunstwerk, das dort zum ersten Mal ausgestellt wurde und grosses Aufsehen erregte, die Heureka von Tinguely, eine Maschine, die mit Getöse in sich selbst kreist und seit Jahrzehnten auf Zürcher Stadtgebiet am Zürichhorn steht. „Verspielter Schrott“, titelte damals die Neue Zürcher Zeitung. In Tinguelys Maschinerie trat dem Heranwachsenden die ungeheuerliche Sinnlosigkeit der ganzen menschlichen Sinnproduktion ungeschminkt vor Augen, und es stärkte meine Liebe zur Heimatstadt Zürich ungemein, dass sie diesem grossen Künstler aus Fribourg die Referenz erwies. (Heureka Video!)

Es ist der blinde Wandel, der die Tradition antreibt, es ist die Zeit. In ihr entstehen und vergehen die Welten. Doch sie selbst, die uns beherrscht, entzieht sich uns. Unsere Lebenswelten sind nur das Geschiebe des Flusses der Zeit, die selbst nicht in Erscheinung tritt. 

Wer hier hat noch nie den Stillstand der Zeit beschworen in schöner Stunde? „Stau dies, und die Zeit tritt aus wie ein See“, heisst es in der Paradiesreise von Robert Musil. Aber wir vermögen nichts Reines zu kosten: „Nous ne goûtons rien de pur“, diesem Befund widmet Michel de Montaigne in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein ganzes Kapitel seiner Essais. So schön etwas sein mag, es drängt uns, es zu Ende zu bringen aufs Nächste hin. „Bleiben ist nirgends.“ heisst es in der Ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke. Getriebene sind wir, von der Zeit, die uns vor sich her treibt, von der Sprache, die, von ihr durchsetzt, uns von Zeichen zu Zeichen jagt, von Satz zu Satz, weil keiner genügt, die Welt zu sagen, ein für alle mal. Deshalb sagt Montaigne über seine Schriften: „Je ne peins pas l’être, je peins le passage.“ Nicht das Sein, den Wandel stell' ich dar.

Der klassische Getriebene aber ist Euer Faust, liebe deutsche Freunde, sagt er doch zu Mephisto:

 

Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,

So sei es gleich um mich getan!

Kannst du mich schmeichelnd je belügen,

Dass ich mir selbst gefallen mag.

Kannst du mich mit Genuss betrügen,

Das sei für mich der letzte Tag!

Die Wette biet’ ich!

Mephisto: Topp!

Und Schlag auf Schlag!

Werd’ ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn!

 

Goethes Faust will unermüdlich sein Wissen mehren, doch endet er mit der Einsicht: Da steh ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor. Wir reisen durchs All wie durch ihren Tag die Fliege, die nur jene Realität erkennt, die ihre Fliegenorgane abbilden. In den Worten Eures Philosophen von Königsberg, Eures Immanuel Kant, meine Damen und Herren: Wir erkennen nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich. Unsere Organe werfen uns die Welt voraus, die wir dann erfahren und für die Realität an sich halten. „Der Zug der Zeit“, heisst es in Robert Musils MoE, „ist ein Zug, der seine Schienen vorauswirft“. 

Doch wenden wir uns unserer politisch-gesellschaftlichen Gegenwart zu.

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs über die bipolare Welt des Kalten Kriegs zur multipolaren Welt der Vollglobalisierung: Meine Generation - die Nachkriegsgeneration der ab 1945 Geborenen - hatte in unseren Breitengraden das Glück, in einem Zeitfenster sondergleichen aufzuwachsen und sich zu entfalten. Seit ein paar Jahren bauen sich aber bedrohliche Verwerfungen mit grossem Konfliktpotential auf: zivilisatorisch, wirtschaftlich und ökologisch, so zwar, dass wir nicht wissen, in welcher Entwicklung wir uns befinden. Nun ist man in Deutschland der Weltgeschichte ganz anders ausgesetzt als etwa in der Schweiz, die ja so klein ist, dass sie von der Weltgeschichte schon fast übersehen wird. Im Zeitalter der Globalisierung ist dem Kleinstaat Schweiz die Vision seiner selbst abhanden gekommen. Das einzig erkennbare mehrheitsfähige Ziel ist die Besitzstandswahrung. Meine Befürchtung ist, dass die Schweiz, berauscht von ihrer zu einem Grossteil nur geliehenen wirtschaftlichen Kraft, sich gegenüber dem übrigen Europa weiter verhärten und den Ausschluss vom freien Marktzugang in der EU in Kauf nehmen wird.

Doch lassen wir diese unerfreuliche Szenerie und konzentrieren wir uns zum Schluss auf die unmittelbare Gegenwart.

Sie erschliesst sich dem Radfahrer, wenn er als ein Tier auf zwei Rädern den Hang hinaufkriecht, Pedalentritt um Pedalentritt, während im schon die Säure in die Beinmuskulatur fährt. Was sonst mühsam immer wieder von neuem errungen werden muss, ergibt sich am Steilhang von selbst, weil man’s nicht mehr schafft, an was anderes zu denken: die Begegnung mit dem reinen Phänomen. Die geistige Tätigkeit nämlich überlagert und verdeckt das Phänomen mit den Bedeutungen, die sie hineininterpretiert. Dies im Wachzustand zu unterlassen ist das Schwierigste, nicht zu meinen, sondern nur wahrzunehmen. Ich nenne diese Anstrengung die Interpretationsaskese. In ihr fällt jeglicher Glaube und jegliches Wissen von einem ab. Man ist nur noch ein namenloses Phänomen, das einem namenlosen Phänomen begegnet. Man ist an der Sprachgrenze.

An dieser Sprachgrenze ist die Photographie, insofern sie noch Ungesagtes ins Bild bringt, etwa eine Stimmung, eine Lichtspiegelung an der Wasseroberfläche. Ich sage Sprachgrenze, und nicht jenseits der Sprache, weil das noch Ungesagte zur Sprache drängt und dabei das Gemurmel der Bedeutungen aufscheucht, das bei professionellen Interpreten bald einmal zu einem Wortschwall werden kann. Doch im starken Bild lässt sich das Ungesagte nie ins Sagen auflösen, bleibt also der Austausch, die Kommunikation zwischen dem Phänomen und der Sprache lebendig. Und dafür lieben wir es, wie den starken Text, der nie zu Ende gelesen ist. 

So ein Geheimnis, so ein Phänomen kann auch ein anderer Mensch sein. So lange das Unaufgelöste sich immer wieder meldet, so lange hält die Liebe an, die sich zwar wandelt, aber währt. Aus freien Stücken lange ein Paar zu bleiben, und nicht nur aus Not und Konvention, ist für Menschen nicht einfach. Denn ist der Andere einmal zu Ende gedeutet, erdrückt die lähmende Schwerkraft der Wiederholung die lebens- und freudespendende Unmittelbarkeit der Begegnung. Wie ein Kunstwerk sich darin bewahrheitet, dass man seiner nicht satt wird, so ist es mit geliebten Menschen. Denn allemal verstellt die eine dem anderen die Welt mit einer Deutung, die nie dem Lebensreichtum Genüge zu tun vermag. Da braucht es diesen Gang an die Sprachgrenze, wo jeder für den anderen ein Geheimnis bleibt, ein unaufgelöstes Phänomen, das sich nie ganz preisgibt. 

So ein grosser runder Geburtstag ist eine Wegmarke, und da es ein aufs Ganze des Lebenswegs gesehen doch später Geburtstag ist, ist er eine Marke auf dem Weg zu einem näher kommenden Ende. Da stellt sich die Frage: Gab es etwas, das sich durchgehalten hat? Vielleicht war es dies: die ständige Ortung jenes Punktes, wo die Flucht möglich ist vor der Prägung, die jedem in der Welt Seienden unweigerlich widerfährt. Prägung heisst, nun auf die Daseinsform des Menschen bezogen: Name, Bedeutung, Person, Beruf, Geschlecht, Eigenschaften überhaupt als Markierungen, die einem aufgetragen sind und die man unter den Augen der anderen und seiner selbst zu sein hat. Die Flucht, die ich hier als etwas Starkes zu verstehen bitte, kann die Form annehmen des Gleitens entlang einer Melodie, eines Lichtschimmers über der Wasseroberfläche, einer zärtlichen Berührung, also was man so Poesie nennt. Aber nicht nur so. Die Flucht kann auch die Form annehmen des Denkens, Sinnierens, Träumens, aber auch des wilden, rauschhaften Vertuns. Sie ist Flucht vor der sich aufdrängenden Einordnung in die Welt, die Lust, niemand zu sein, nur ein Auge, das sieht, ein Ohr, das hört, eine Hand, die berührt.  

Angesichts der Endlichkeit nicht nur des einzelnen Lebens, sondern auch der Geschichte der Menschheit erscheint das Flüchtige als das Wahre und die gesellschaftlich-sprachliche Prägung als der Schein. Die kluge Lebensführung ist ein Hin und Her zwischen diesen Dimensionen.