Alles schuldet die Bleibe der Erzählung, denn sie braucht eine Vergangenheit und eine Zukunft, um sich als die Stätte deiner Gegenwart zu etablieren. Nun existieren weder die Vergangenheit noch die Zukunft aus sich selbst, es ist die Erzählung, die die Vergangenheit im Gedächtnis hält, und sie ist es, die unsere Wege in die Zukunft entwirft. Gewiss gehört zur Erzählung die Spur, die das Erlebte im Körper zurückgelassen hat, aber was wäre diese Spur, wenn sie nicht mit Worten nachgezogen würde? Eine vielleicht glosende, aber doch vage Linie.
Die starken Linien des Lebens zieht das Erzählen, also das Wort, und da hinein schreibt sich das Wohnen, da webt es seine eigene Geschichte, auf allen Ebenen der bürgerlichen Existenz, die aus dem Lot geraten würde, verwischten diese Linien sich. Da liegt der tiefere Grund für das Bedürfnis nach Halt und festen Beziehungen: zur Orientierung eines Bewusstseins, das naturgemäss dem Chaos zustrebt. Betrachte das Bewusstsein irgend Jemandes unter der Lupe. Du wirst ein Wimmeln sehen von unterschiedlichsten Fragmenten und Versatzstücken. Daher braucht's die ordnende Kraft der Erzählung über die Zeit: kurzfristig, mittelfristig, langfristig, um des Funktionierens der Person willen. So erst entsteht der Sinn deines Aufenthalts, so entsteht der Sinn deines Wohnens. Ich wohne in Bern, und ich sage dir: das ist mittlerweile eine ganze, ausgewachsene Erzählung, mit vielen Stockwerken, Korridoren, Aufenthaltsräumen.
Und darin das Photo? Ist es nicht ein Kontrapunkt zur Erzählung, eine Momentaufnahme, der geschlossene Horizont einer Szene, abgehoben gegen die Fluchtlinien des Erzählmodus? Illustration gegen Erzählung? Letztere entfaltet beim Formulieren des Sinns die Syntax, der entlang das Bewusstsein seinen Lauf nimmt, während erstere dem Wohnen das Bett bereitet, indem sie die Szene ausbreitet, das Bett der Intimität - was frei von Angst heisst. Zwei Räume also: der eine erzählerisch, eher linear, der andere bildlich, eher kreisförmig, beide ineinander verwoben: Erzählung und Szene.
Ineinander verwoben, sage ich, denn du wirst nie das eine (die Erzählung) ohne das andere (die Szene) haben. Duras zum Beispiel neigt dazu, die Erzählung in der Szene verschwinden zu lassen, eine Tendenz, die auch Blanchot nicht fremd ist. Du findest da eine Folge von Szenen mit minimaler Erzählung. Gleiche Tendenz bei Handke. Viel weniger bei Früheren, im 19. Jahrhundert oder vorher. Und Proust! Welche Vielfalt der Bezüge zwischen Erzählung und Szene! Ein Übergangstext, würde ich sagen, Übergang vom Akzent auf der Erzählung zum Akzent auf der Szene. Aber kehren wir zurück zum Photo.
In der Tat ist das Photo, obwohl der Szene zugewandt, auch eine Inszenierung erzählerischer Elemente, als blosse Wiederholung gegebener Bezüge oder als Neuerung. In letzterem liegt dein kreatives Potential!
Merke: Einen Ort bewohnen ist kein unschuldig Tun, insofern du zwischen den erzählerischen Elementen dieses Ortes neue Bezüge stiftest. Das Photo kann Zeugnis ablegen vom Zutun des Bewohners zu seinem Wohnort. Solches zu leisten ist dir aufgetragen.