Das Photo und die Bleibe, II.

Die Zeit treibt uns aus dem Augenblick, darin dem Zeichen verbündet, das uns immer aufs nächste Zeichen verweist, und so weiter. Dieser Flüchtigkeit setzt sich das Ansässig-Werden und Wohnen entgegen - auch der Kalender, der die regelmässige Wiederkehr des Gleichen zur Institution erhebt. Sein Wesen ist die Wiederholung, sein Heil das Gesetz, das diese gewährleistet. Nun steht und fällt das Gesetz mit dem gefestigten Sinn der Worte. Es ist ein ständiger Kampf, denn die Dinge ändern sich im Zug der Wiederholung, und damit der Sinn der Worte, die sie benennen, jener Worte auch, die das Gesetz verkörpern. Man kann Massnahmen ergreifen gegen diese Rückkehr der Wechselhaftigkeit, aber es wird nie gelingen, sie ganz zu verhindern. 

Es gibt Zeiten im Leben der Völker, in denen die Spannung zwischen den Kräften des Beharrens und jenen des Wandels steigt. Das ist heute in unseren Breitengraden der Fall und liegt offen zu Tage, keiner kann sich dieser Strömung entziehen. Nie wirst du hier übrigens Ursache und Wirkung unterscheiden können, denn die Strömung bringt wiederum hervor, was sie erzeugt, und der Mensch, dieser passive Akteur, ist darin gefangen. Er gehorcht der Strömung mehr, als dass er sie in Bahnen zu lenken vermöchte. 

Von der Technik kommt dabei die grösste Versuchung zur Hingabe an den Wandel. Gerade beim Photographieren. Einst diente das photographische Bild dazu, die Zeit anzuhalten. "Banne die Vergänglichkeit!" Heute kannst du dank Smartphone noch mehr an der Beschleunigung des Alltags teil haben, indem du dem Reigen der gesehenen Szenen denjenigen der Bildchen dieser Szenen hinzufügst. Diese Vervielfältigung befördert noch die Beschleunigung. Durch sie entsteht ein neues Erleben der Zeit. Die ist nicht mehr der Übergang von einer Vergangenheit in eine Zukunft, sondern ein auf der Stelle drehender Wirbel, eine vor dem Hintergrund des Nichts sich ständig weiter beschleunigende Spirale. Das Photo ist jetzt keine Aussensicht mehr auf die photographierte Welt, sondern ein Teil dieser Welt selbst, im Verlust der Meta-Ebene: das Verfallen des Photographierenden an die Welt im Versinken des Bildes in der Bilderflut. Dieser Verlust der photographischen Distanz entspricht der Verflüssigung des Aufenthaltsorts: die Fortbewegung wird stärker als das Wohnen, an die Stelle des fixen Bildes tritt der Wirbel der Bilderflut.