Die Photographie und das Erscheinende, III.

In einem Rahmen, der die Szene ausschneidet und sie aus dem Fluss der Zeit in die Dauer hebt, leben die Personen, die anderen Lebewesen und die Dinge weiter als Formen und Gestalten in Bewegung. Während die Zeit alles Lebendige mit sich reisst und von der Gegenwart in die Vergangenheit stösst, lebt die photographierte Szene auf ihre Weise weiter und ragt so auch aus ihrem jeweiligen späteren Umfeld heraus. Von diesem wird sie freilich immer wieder affiziert, denn ihr Sinn ist nicht abschliessend festgelegt, sondern als Frage aus einem Mangel heraus für die Lektüre unabschliessbar offen. Dabei erlangt die ursprüngliche Intention des Photographen niemals eine Deutungshoheit, die ihren Sinn zu sättigen vermöchte. Die produktive Photographie zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, dass sie ein Sinn-Defizit in die Welt setzt und damit der sinn-produzierenden Lektüre Raum gibt. Eine Künstlerin, ein Künstler ist jene oder jener, die, der in der grossgeglückten Tat die eigene Intention im Gang ins Offene hinter sich lässt.

Beim Betrachten des Photos verlasse ich meinen gegenwärtigen Zeitstrom, werfe ich mich in den genuinen Zeitraum der Aufnahme, wie dies auch der Photograph tat, als die Aufnahme entstand. Auch er verliess seinen gegenwärtigen Zeitstrom, indem er die abgebildete Szene daraus löste, und wie er wirft sich nun der Betrachter dieser vom übrigen Zeitstrom abgelösten, aber dennoch vom ihm affizierten Dauer zu.

Darin liegt die Chance auf eine starke Reflexion, gleichermassen, ob nun der Photograph und der Betrachter die nämliche Person sind oder nicht, ob es sich um eine Auto- oder eine Hetero-Reflexion handelt. Denn das Sich-Werfen des Sehenden hin zum Gesehenen ist eine ursprüngliche Ek-stase, in der der Blick mich mir immer schon entrissen hat zu einem Gesehenen hin, das mich zurückweist - als anderes, als „nicht ich“. Das Photographieren wie schliesslich auch das Betrachten des Photos setzt dieses ursprünglich ek-statische Geschehen des Sehens fort, beide Vorgänge sind ihrerseits Ek-stasen, in denen ich mich zwischen mir und dem Anderen vorfinde, am „Ort“ der Ek-stase, dem Dazwischen, der Bedingung der Möglichkeit von Ort überhaupt. 

Ursprünglich ist da dieser Auf-Riss zwischen mir und dem Anderen, diese Konfrontation. Die angeeignete, „mir gehörige“, „Heimat“ gewordene Szene ist das Produkt ihrer Verdrängung. In Wahrheit komme ich zur Welt als Wesen, das von sich selbst getrennt ist, aufgeschlagen auf Wesen, die nicht mich selbst sind. Dieses Zur-Welt-Kommen ist ein ständiges, ständiger ek-statischer Fort-Riss von mir selbst im Sein bei anderen als ich selbst. Die Ausbildung eines innerweltlichen, zivilisierten, personalisierten gesellschaftlichen Raums ist dem nachgeordnet und daher zweitrangig. Dennoch gelingt es meist, damit die primäre Konfrontation (und damit die primäre sexuelle Ur-Lust des Zerschellens am anderen Wesen) zu ersticken, wenn auch nicht im Keim.

Wir sind damit jenem Denken des Jean-Jacques Rousseau nahe gekommen (siehe seinen Emile), darin er zwischen der Liebe zu sich selbst (amour de soi) und der Eigenliebe (amour propre) unterscheidet. Erstere ist, als Selbstbezug des unzivilisierten Wilden, vorpersönlich, die sich liebende ursprüngliche Ek-stase. Letztere, die Eigenliebe (amour propre), ist Liebe zur Person, die sich im existenziell sekundären, innerweltlichen Raum der vergesellschafteten Subjekte herausgebildet und etabliert hat.  

Das Photo ist ursprüngliche Liebe der Existierenden zu sich selbst, insofern es deren im Zivilisationsraum verschüttete Ek-stase des Sehens in ihrer Fortsetzung freigibt. Dieses Photo nenne ich „existenziell“. Ich werde demnächst davon handeln. Hier nur mal ein Beispiel.