Übers Altern.

Kleine Ansprache aus Anlass eines 60sten Geburtstages im Bekanntenkreis.

Der Übergang vom unendlichen Zug des tätigen Lebens in die Zukunft hin zum Rückwurf des Bewusstseins auf die Endlichkeit des Daseins findet bei den meisten hiesigen Gesellschaftsteilnehmern im Alter von plus minus 60 Jahren statt. Das hat wohl mit der Verrentung zu tun, denn die Rente ist die gesellschaftlich sanktionierte Entlassung der Person aus Beruf und Zukunftsstreben. Es gibt also so etwas wie eine gesellschaftliche Konvention darüber, wann die Zukunft eines Menschen aufhört bzw. aufzuhören hat. Wer so weit ist, spürt, dass diese Konvention, die ihn vom Zug in die Zukunft auf sein endliches Selbst zurückwirft, eine echte biologische Grundlage hat und damit eine unumgängliche Wahrheit beinhaltet - und wie hohl der Satz tönt, wonach man so jung sei, wie man sich fühle. 

Nicht schon seit 60, aber doch seit 63 etwa beschäftigen mich Alter und Ende, Schwinden und Verschwinden. Bei letzterem kommt mir zugute, dass ich seit meinen ersten Todesreflexionen mit 16 der unerschütterlichen, tiefsitzenden, mein ganzes Wesen durchdringenden Auffassung bin, dass dieses ganze Ich, dieses personale Bewusstsein und überhaupt diese zivilrechtliche Selbstheit mit dem Eintreten des Todes ausradiert, getilgt und annulliert sein wird. Ich werde meinen Tod daher nicht erleben, das Aufhören des Bewusstseins wird von keinem Bewusstsein begleitet sein, nicht einmal ein Weg-Sein wird ein Ich mehr feststellen - genau so wenig, wie ein Bewusstsein davon in mir ist, wo ich war, bevor ich gezeugt wurde. Ich bin also seit vielen Jahrzehnten unverbrüchlich davon überzeugt, dass es sub specie aeternitatis auf wirklich nichts ankommt, sondern nur in Anbetracht des Hierseins. Diese frühe, diskussionserprobte und nun altersgereifte Einsicht der transzendentalen Obdachlosigkeit gereicht mir in letzter Zeit zu einer ausgewachsenen Heiterkeit, der dadurch nachgeholfen wird, als ich mir schon ein bisschen auf die Schultern klopfen darf, wie brav ich mir den ökonomischen Boden für diese ruhige Alterswarte bereitet habe - denn ein solcher Boden ist zwar nicht der zureichende Grund, aber die notwendige Bedingung zur Erlangung eben dieser Heiterkeit. 

Deren zureichender Grund liegt in der gewonnenen Zweckfreiheit des Daseins. 

In einer Notiz schreibt Paul Valéry: „Tout mon travail naturel ... ne consiste que dans une sorte de préparation perpétuelle, sans objet, sans finalité - „ (Cahiers I, p. 173). „Mein ganzes natürliches Tun besteht nur aus einer Art dauernder Vorbereitung, ohne Ziel und Zweck“. Je nachdem, wie einer „sans finalité“ übersetzt, tönt es heiter oder düster, ist mein Leben „zweckfrei“ oder „zwecklos“. Es gehört zum Altern, dass das „für sich“ der Zweckhaftigkeit immer mehr des „an sich“ der Zwecklosigkeit und -freiheit in sich aufnimmt - als Vorbereitung sozusagen auf das Verschwinden. Gibt es etwas Befreienderes, als sich im Zuge einer solchen Vorbereitung die Welt, die einen real umgebende Welt und die einen real umgebenden Personen, unter dem Aspekt des eigenen Verschwundenseins vorzustellen, regelrecht plastisch, nicht nur abstrakt vorzustellen? So etwas vollziehe ich heute realer als jene Exerzitien, in denen ich als junger Student Heideggers „Vorlaufen in den Tod“ einübte. 

Dazu gehört eine weitere, schwer zu erbringende Leistung: die Interpretationsaskese. Natürlich pflege ich meine Schubladen weiter, habe ich über alles und jedes eine vorgefasste Meinung. Anders kommt man nicht durchs Leben. Aber dieser Meinungsraster dient ähnlich einem Orientierungsfadenkreuz auf dem Kameramonitor gerade mal der tagtäglichen Pfadfinderei, er ist weder ideologisch noch gar metaphysisch belastbar. Natürlich unterläuft einem immer wieder, dass man einer Fiktion einen realen Gehalt verleiht, der ihr nicht gebührt. Sich davon zu befreien, gehört zur Altersemanzipation.

Ich rede dauernd von „befreien“, weil man sich ja dauernd verfängt. „Der hat sich wieder gefangen“, sagt man von jemandem, der aus dem Ruder gelaufen ist und die geordnete Bahn wieder gefunden hat. Der Alltag bringt Gefangenschaft mit sich, die Herrschaft von Meinungskorridoren, kollektiven Zwangsvorstellungen, die als Konfessionen bis ins Religiöse gehen - überall diese Deutungshoheiten, deren Abschaffung am Anfang der sogenannten Neuzeit Programm wurde: mit René Descartes Meditationes. Die Geburtsstunde des systematischen Zweifels war die Geburtsstunde jenes Ich, das aller Autorität abschwor. Das ist freilich kein einmaliger Akt, sondern Arbeit für ein ganzes Leben. Wie wenig wir in der Neuzeit angekommen sind, wie tief wir noch im Mittelalter stecken, zeigt nur schon die gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung, die etwa die katholische Kirche bis ins 21. Jahrhundert hinüberretten konnte. Ihr geistiges Ende war mit den Meditationes des Descartes besiegelt, dessen kläglicher Gottesbeweis am Ende der dritten Mediation darf als ein Griff in die Trickkiste zur Rettung vor dem Scheiterhaufen betrachtet werden. Kant drückte sich da klarer aus - wenigstens für solche, die genau lesen. Unter den lebenden Philosophierenden ist mein Favorit in dieser Frage Ernst Tugendhat, der dem Tao zuneigt. Überhaupt meine ich mit Nietzsche, dass das Christentum uns infantil gemacht und mit Blindheit geschlagen hat in religiösen Dingen. Es hat das, was jenseits von uns liegt, auf den Kreis des uns Vorstellbaren reduziert, und uns damit. Sich davon zu befreien, gehört zur Altersemanzipation und zur Vorbereitung des Verschwindens. 

Bei alle dem kommt es nun wirklich nicht darauf an, was unsereiner der Welt hinterlässt. Was den anderes als den footprint, mit dem wir das Verschwinden nicht nur unserer selbst, sondern der Spezies befördern? Alles ist dem Untergang geweiht, die Welten meiner Vorvorderen waren es, meine Welt ist es, und die Welten meiner Nachkommen werden es sein, und eines Tages wird auch jede Erinnerung an diese Welten verschwunden sein. Es ist keine Kontinuität. Das Fragment, der Splitter, ist unsere Wahrheit, die des sprechenden Tiers.

 

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