Meine Zeit in Romanshorn.

Als ich in der ersten Hälfte der Fünfziger Jahre als 7-, 8jähriger erstmals allein von Zürich mit dem Zug nach Romanshorn reiste zu meinen Grosseltern in Salmsach, beeindruckten mich die riesigen Lagerhäuser hinter dem Bahnhof am Hafen, die aufzuragen schienen gegen das fremde Land am anderen Ufer. Wollte das Kind vom Gleis hinüber zu den Schiffen, wartete es erstaunt, bis die Bahnhofarbeiter die schweren Ketten eingezogen hatten, mit denen die Passanten von den ein- und ausfahrenden Zügen getrennt werden mussten. 

Die Mutter, früh verwitwet, hatte in Zürich eine Wohnung für sich und ihre beiden Kinder und eine Arbeitsstelle als Fotografin gefunden - nach der Lehre in den 40er Jahren bei Scalabrin in Romanshorn. Sie setzte mich in Zürich in den Schnellzug, der damals noch an Orten wie Bürglen und Sulgen hielt. In Romanshorn dann nahm mich der Grossvater in Empfang. Als Zollbeamter vor meiner Zeit mit seiner Familie im hölzernen Zollhaus an der Luxburgstrasse in Egnach stationiert, wo mein früh verstorbener Vater aufwuchs, arbeitete er damals in jenem länglichen historischen Gebäude im Hafen, in dem heute das Ortsmuseum untergebracht ist. Zu Fuss ging's zur Wohnung an der Ecke Arboner-/Schulstrasse in Salmsach, im ersten Stock des Hauses des Metzgers Zünd, wo die freundliche Grossmutter das Kind aus Zürich erwartete. Schräg gegenüber befand sich ein stattlicher Bauernhof, dessen Kühe zu hüten mir hin und wieder tageweise aufgetragen wurde, auf Wiesen gen Egnach rechter Hand entlang der Arbonerstrasse, wo sich heute die Garagen und andere Gebäude des Autohandels reihen. Metzger Zünd schlachtete im kleineren Nebengebäude, das wie sein Haupthaus noch heute erhalten ist. Für ihn wuschen wir gelegentlich Kutteln in der nahen Aach - was mir die Lust auf Kutteln-Gerichte für immer nahm. Item - dem Kind war das alles wie ein Besuch in der Vergangenheit seiner Mutter, denn es wuchs ja selbst ganz anders auf - im Herzen Zürichs, in einem städtischen Umfeld, besuchte dort den Tageshort und war schon regelmässig allein mit dem Tram unterwegs, die urbane Anonymität längst gewohnt, bevor es deren Begriff kannte, während in diesem Flecken Ostschweiz die Leute, mit denen es in Kontakt kam, alle miteinander bekannt schienen - freilich nicht immer auf angenehme Weise. Hier kamen sie einander näher, als man es in der Stadt tut - da gab es auch mehr Reibereien, mehr Wut und Hass auf andere.  

Als ich dann mehr als ein halbes Jahrhundert später im Oktober 2010 ins verlassene Haus meiner ältesten Tante mütterlicherseits an der Kastaudenstrasse in Romanshorn zog, schien mir, ich fände vieles, ja fast alles wieder, was das Romanshorn meiner Kindheit ausgemacht hatte. Gewiss: der ehemals gewichtige Verkehrsknotenpunkt hatte seine Bedeutung verloren, von der grossen Bahnanlage war ein Grossteil stillgelegt, die ehemals stattlichen Gebäude rund um den Bahnhof waren mit Ausnahme desjenigen der Post baufällig geworden, die halbpatzige Fussgängerzone der Alleestrasse in der Kernzone des Zentrums bot ein Bild voller Tristesse. Grau und abweisend dann die Beton-Fassaden-Front am Hafen zwischen den Restaurants "Schiff" und "Panem". Dagegen, und gegen den unsäglichen Infantilismus der Disney-Figur auf dem Bahnhofplatz, vermochte meine Tante, die jetzt im Altersheim zu Amriswil lebte, nur gerade mal den Seepark anzuführen, eine Errungenschaft, die das einzige Argument lieferte, um Aussenstehenden einen Besuch der Stadt zu empfehlen. Vordergründig zog ich nach Romanshorn wegen des verlassenen Hauses, wegen der guten Zugverbindungen nach Zürich und wegen des Sees. Es gab noch einen anderen Grund, der mir erst jetzt, wo ich nach sechs Jahren wieder wegziehe, klar wird: meine Kindheitserinnerungen. Deren Kristallisationspunkt bildete das Haus Zünd in Salmsach. 

Als ich Ende 2010, 2011 in Romanshorn zu wohnen begann, schien die Stadt reif für einen Neuanfang. Der bisherige Gemeindeammann musste einem Kampfkandidaten weichen, der für einen Aufbruch in eine urbane Modernität eintrat. So zumindest verstand ich damals die politische Zielsetzung des heutigen Stadtpräsidenten. Man lernte sich kennen, er wurde gewählt, und als sich nach einiger Zeit mit dem Segen des Stadtrats eine Wirtschaftskommission zur Beförderung der Entwicklung der Stadt bildete, wurde ich Mitglied - in der aus dem Ergebnis der Gemeinderatswahlen genährten Zuversicht, dass eine Mehrheit der politisch aktiven Bevölkerung die Verhältnisse ändern wolle. Ich hatte diese Zuversicht noch bis 2013, 2014 hinein. Sie erhielt ihren ersten Dämpfer bei der Ablehnung der Fusion der Gemeinden Romanshorn und Salmsach. Sie ist mittlerweile nicht wieder grösser geworden, auch wenn im Hafen ein neues Restaurant beim Wasser eröffnet wurde und beim Bahnhof eine neue Überbauung mit Geschäften, Cafés und Bars zur Belebung des Zentrums beitragen dürfte. Die neuerlichen Entscheide der Romanshorner Bevölkerung gegen Investitionen in die Zukunft - Ablehnung des Budgets wegen einer kleinen Steuererhöhung, Ablehnung der zusätzlichen Kosten einer Zusammenführung der Verwaltungseinheiten der Stadt an einem öffentlichkeitswirksamen Ort - sie bereiten den Anstrengungen, aus der Stagnation des Gemeinwesens herauszukommen, einen steinigen Boden. 

Ich kam von Zürich und ziehe nun weiter. Ich werde den Rad- und Fussweg von der Kastaude über die Pestalozzistrasse zum Bahnhof nicht mehr nehmen, am Schulhaus und dann am Coop vorbei, vor allem aber wird das Leben aus dem Haus Zünd weichen, das durch meine Kindheitserinnerungen dort wieder eingekehrt war. Zwar ist das Haus meiner Tante fast 10 Radminuten vom Haus Zünd entfernt: der Weg dahin führt auf der Arbonerstrasse gen Süden gleich nach dem Stadtrand ennet der Brücke über die Aach, zwar war ich fast immer daran vorbeigefahren auf meinen Radfahrten nach Rorschach und Rheineck, ausser für zwei, drei Photos der beiden Gebäude, des grossen und des kleinen, die ich aber die ganze Zeit über mit meinen Kindheitserinnerungen belebt habe. Mit mir geht wohl einer der letzten Zeugen, in dem die versunkene Welt der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts noch einmal aufleben konnte, mit dieser Kraft und Wachheit der Erinnerung. Der grosse Bauernhof von gegenüber ist längst verschwunden, und die ländliche Szenerie entlang der Schulstrasse gen Amriswil hat allen Charme des Landlebens eingebüsst. Dort, wo in meiner Kindheit auf grossen Wiesen junges Volk von riesigen Heufudern grüsste, stehen nur noch kalt und abweisend zwischen Wohnhäusern verstreute Nutzgebäude. Weiter geht's, ich zieh gen Westen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Nina Stieger (Montag, 02 Januar 2017 11:11)

    Romanshorn braucht Menschen wie Dich. Du solltest hier bleiben, auch wenn ich sehe, dass der "Kleinmut der frustrierten Ewiggestrigen" alle Gebildeten und in den letzten Jahren Zugezogenen vertreiben möchten und nicht merken, dass jene, welche es wirtschaftlich können, dies - mit den wahrnehmbaren Auswirkungen - auch tun. Das ist eine Entwicklung, der ich mich - solange ich mag - entgegenstemme.

  • #2

    Felix Meier (Montag, 02 Januar 2017 11:47)

    Lieber Peter
    durch Zufall und nach einer thematisch ähnlich gelagerten Diskussion bin ich auf Deinen Blog gestossen (worden). Auch wenn ich Deine Überlegungen (ohne den mir fehlenden Teil des persönlich/biographischen) mehr als nachvollziehen kann, schliesse ich mich Nina`s Bemerkungen an. Auch wenn wir uns in den vergangenen Jahren aus den Augen verloren haben - und ich finde es nun nach dieser Lektüre zusätzlich traurig, dass ich Deinen seinerzeitige Ball nicht richtig aufgenommen habe - frage ich mich, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, eine Art Vermächtnis eines Zu- und Weggezogenen zu verfassen, das denjenigen, die wie Nina sich entgegenstemmen wollen (davon gibts wahrscheinlich schon noch ein paar), wenn nicht als Anleitung dann doch zur Ermunterung dienen könnte. Ich bin mir bewusst, das ist eine grosse Bitte. Und ich hoffe, ich kann Dir diese noch vor Deinem Weiterziehen persönlich und direkt vortragen. Mit herzlichem Gruss, Felix