Auf Schnellschuss eingestellte, spontan photographierende Leute knipsen Bedeutungen, bzw. Inkarnationen von Begriffen, also "Gemeinplätze": ein "kleines herziges Kätzchen", ein "schönes Abendrot", ein "feines Essen". Je satter die geknipste Erscheinung von der Bedeutung ausgefüllt wird, desto besser. "Gut getroffen" ist dabei die intendierte Bedeutung, der inkarnierte Begriff, jener vorgegebene gemeinsame Nenner von Sender und Empfänger des Bildes. Das Gros der heutigen Bilderflut gehorcht dieser Logik der Unterstellung des Erscheinenden unter den Gemeinplatz, das "Motiv" eben.
In dieser Logik lässt sich durchaus eine Kunstfertigkeit entwickeln; überraschende Konstellationen entfalten einen ästhetischen Reiz, es entstehen sogenannte Bildersprachen, die im Kunstbetrieb, aber auch in der Werbung Furore machen. Der Ausdruck "Bildersprache" zeigt sehr schön, was bei alledem stattfindet: die Unterstellung des Bildlichen unter die Sprache, verstanden als eine je bestimmte Kombinatorik von Syntax und Semantik.
Mir geht es beim Photographieren gerade darum nicht, mich interessiert vielmehr das Phänomen, bzw. dessen Freistellung in der eigenständigen Szene.
Das Phänomen ist die von ihrem materiellen Träger und von ihrer Allerweltsbedeutung abgelöste Erscheinung als das Eigene von Malerei und Photographie, der Luxus par excellence, das Gegenüber des blossen Schauens, also des schwierigsten. Denn das gewöhnliche Schauen ist durchsetzt von alltagssprachlichen Bedeutungen, die alles Gesehene durchdringen, Mustern, die nur durch die jeweilige Beschaffenheit ihrer materiellen Träger variiert werden. Darauf bauen auch noch die Bildersprachen auf, die als Produkte einer besonderen Kunstfertigkeit einen guten Markt haben.
Die Hinsicht auf das Phänomen hingegen bedarf des Kunstgriffs der Ablösung des Erscheinenden von seiner materiellen Trägerschaft einerseits und seiner tradierten Bedeutung andererseits. Diesen Kunstgriff bewerkstelligen Malerei und Photographie, sie haben darin ein Gemeinsames. Dadurch zum Phänomen zu gelangen, ist jenen vorbehalten, die sich "an den Rand der gedeuteten Welt" begeben.
Von diesem Rand gibt es viele Berichte. In der Literatur ist er ein Topos. Phänomene - Erscheinungen, wie gesagt, vor ihrer Sättigung mit alltäglicher Bedeutung - zeigen sich nur an diesem Rand der Welt. Eine Möglichkeit, sie zu schauen, hat etwa Edmund Husserl in seinen Cartesianischen Meditationen dargelegt.
Abgebildet werden kann in Malerei und Photographie die Distanz und Spannung zum gewöhnlich Geschauten in der Hinsicht auf das Phänomen. Beides entsteht durch die Freistellung des Abgebildeten im Kunstgriff der Rahmengebung und -setzung, den Malerei und Photographie je anders bewerkstelligen. Ich kann hier nur von der Photographie reden, die ich selbst betreibe.
Da löst, wie in der Malerei, der Rahmen eine Szene aus ihrer Umgebung heraus. Die Szene wird eigenzentriert und tritt als eigene Welt zur übrigen in ein Spannungsverhältnis - während sie in der Spontanphotographie eine Portion dieser übrigen Welt bleibt. Dabei verändert sich in ihr der Status aller enthaltenen Seienden qua Erscheinenden und deren Verhältnis zueinander.
Hier nun greift bereits die Brennweite des Objektivs tief in die Verhältnisse ein. (Ich photographiere nur mit Festbrennweiten.) Der Weitwinkel (17, 18, 35 mm) etwa erhöht die Entfernung zwischen den Seienden, lässt den Raum anschwellen, wohingegen das Zoom-Objektiv (ab 85 mm) Nähe schafft durch Tilgung von Distanz. Neutral zum üblichen Sehen ist da gerade noch die Brennweite 50 mm.
Zahlreiche weitere technische Faktoren bestimmen die Verhältnisse innerhalb der so konstituierten Szene: deren Flüssigkeit oder Starrheit, aber auch den Lichteinfall bestimmt die Verschlusszeit der Aufnahme: je länger, desto flüssiger; deren Lichtdurchdringung und damit Tiefenschärfe die Blendenöffnung, die Lichtempfindlichkeit wird ebenso bestimmt durch die Höhe der ISO: je höher, desto heller, bis hin zum Rauschen. Je nach Beschaffenheit der Kamera, insbesondere ihres Sensors, wirken sich diese Parameter verschieden aus.
Vergessen wir nicht den Photographen selbst. Es gibt ein Sehen vor dem Auslösen des Bildes, das sich vom zu Sehenden im Bild immer unterscheidet, auch wenn das Eine zum Anderen führt. Dazwischen liegt der blinde Entscheid der Auslösung der Aufnahme.
Das Sehen vor der Aufnahme ist welt-abwesend. Die eigene Seinsgeltung wie diejenige des Gesehenen ist ausser Kraft. Es ist ein träumerischer Vorgang. Hellwach erfolgt nur das Kamerakalkül: der Vorgriff auf die photographisch herauszulösende Szene. Dieser Wach-Traum-Kontrast ist antrainiert. Die Aufmerksamkeit gilt ebenso dem Kamerakalkül wie dem Traum, der aus dem Photographen als Träumer und der diesen umgebenden Welt als dem Geträumten besteht, das auch den Träumer enthält. Das heisst: Der Photograph träumt noch sich selbst und hat als hellste Wachheit das Kamerakalkül (inklusive das Draufhalten der Kamera) im Kontrast zum Träumen.
Dieser Vorgang bereitet dem Photographen die Lust der Irrealisierung seiner selbst in voller Konzentration - wie sie wohl jeden kreativen Vorgang begleitet. Darin liegt der seelische Vollzug des Photographierens, der im richtigen Draufhalten seine Vollendung findet. Der Photograph, ein hellwacher Traumtänzer.
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