Die Schweiz heute:  Sprachenfaulheit und Ablehnung der Nachbarn.

Auch wenn wir in einem Europa der Regionen wären, und nicht mehr in jenem der Nationalstaaten, würde ich mich für die gegenseitige sprachliche Durchdringung jener verschieden sprachigen Gegenden interessieren, die heute zur Schweiz gehören, mich also nicht begnügen wollen mit einer auswärtigen lingua franca - die ja nicht der “Völker”-Verständigung dient, sondern gerade mal der notdürftigen Information. 

Ich persönlich brauche also nicht das Argument des nationalen Zusammenhalts, verstehe aber, dass ein Bundesrat sich veranlasst fühlt, dies ins Feld zu führen. Mir geht es um Lebensqualität. Dazu gehört neben dem materiellen Wohlergehen auch ein kulturelles. Beides ist dann am besten gewährleistet, wenn es die umgebende Gesellschaft insgesamt durchzieht, wenn also in der gesellschaftlichen Umgebung die Gefälle nicht so gross sind, dass man von einer Kluft sprechen muss. 

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Die Sprachpflege arbeitet an der Grundierung der Kultur, denn ohne Sprachpflege gibt es keine Kultur. Kultur ist jener zivilisatorische Überschuss, mit dem der sprachliche Status (also der Mensch) den Sinn seiner Existenz mit produziert. Seine Existenz ruft nach diesem erweiterten Sinn, weil ihr mit Essen, Trinken, Paarung und einem Dach über dem Kopf offensichtlich nicht Genüge getan ist.

Die Sprache ist  d a s  Medium, in dem dieses Rufen nach Sinn stattfindet, dessen Produktion und Konsumation.

D i e  Sprache - in Form der einen Sprache, in der man aufwächst, in Form von mehreren Sprachen, die das eigene Biotop durchziehen, je nach dem. Grundsätzlich sind auch in nur  e i n e r  Sprache deren Geschenk und Last (das "Gift" in seiner deutsch-englischen Doppelbedeutung, siehe den entsprechenden Text von Jacques Derrida) voll da, denn auch der Reichtum nur einer Sprache ist unermesslich und unergründlich. Dies belegt die Existenz von gänzlich einsprachigen starken Autorinnen und Autoren. Im Prinzip mangelt es also einem Menschen, der in nur einer Sprache lebt, an nichts Wesentlichem. Der Mangel wird erst spürbar, wenn er als einsprachiger in einem mehrsprachigen Biotop lebt. Im Unterschied etwa zu den Vereinigten Staaten von Amerika ist Europa, ist schliesslich die Schweiz ein solches mehrsprachiges Biotop. Wer in Europa, wer gar in der kleinräumigen Schweiz in nur einer Sprache lebt, ist im Verhältnis zum tradierten Umfeld kulturell relativ arm dran. Die lingua franca, die ich als reines Informationstool kulturell zum Bereich “McDonalds” zähle, ändert daran nichts, denn ihr kultureller Beitrag ist als solches Tool gleich null. 

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Der kulturelle Reichtum des Sprechenden der einen Sprache wird nun nicht einfach um den Betrag des Reichtums der weiteren von ihm gesprochenen und geschriebenen Sprache oder Sprachen erhöht, sondern diese weiteren Sprachen erweitern den Reichtum der ersten Sprache in dieser selbst, insofern sie ein zusätzliches Licht in sie hineinwerfen. Ein wichtiger Aspekt dieses zusätzlichen Lichts ist die dadurch bewirkte Erweiterung der Sinnfacetten der im sprachlichen Medium freigestellten Phänomene und Zusammenhänge. Daraus ergibt sich eine zusätzliche Ausleuchtung des Lebensvollzugs, bis hin zu dessen Illumination. Gerade verschieden sprachige Liebespaare wissen davon zu berichten. 

Der kulturelle Reichtum einer Gegend, in der auf kleinstem Raum mehrere Sprachen gelebt werden, könnte daher besonders gross sein, dann nämlich, wenn die Interaktion zwischen diesen Räumen intensiv genug ist, um die gelebte Mehrsprachigkeit ihrer Bewohner zu gewährleisten. Diese Bewohner würden dann über die geistig-kulturelle Flexibilität verfügen, die es ihnen erlaubte, zwischen den verschieden sprachigen Regionen zu zirkulieren. 

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Die Schweiz wäre von den Voraussetzungen her eine solche Gegend, sie ist aber weit entfernt davon, das kulturelle Potenzial, das dies mit sich bringt, zu entfalten. Mitunter versäumen die Bewohner der Schweiz die Lebensqualität, die sie haben könnten. Ich sehe dieses Versäumnis als eine Begleiterscheinung der Globalisierung und Digitalisierung der Lebensräume, und insofern diese Trends nicht zu ändern sind, wird auch das Versäumnis nicht zu ändern sein. Es geht hier also nicht darum, den Verlust zu beheben, was freilich ein edles Unterfangen wäre, sondern nur darum, ihn zu ermessen - zuhanden derjenigen, die wenigstens für sich noch die Qualität bewahren oder erwerben möchten, auf die das Gros der Bevölkerung verzichtet - verführt durch einen wohlfeilen Sinnkonsum à la McDonalds. Das kulturelle Gefälle, das dadurch entsteht, müssen wir in Kauf nehmen, denn niemand Gescheites wird ernstlich seiner Verdummung zustimmen wollen, nur um das Gefälle zu seiner Umgebung gering zu halten.

Mit dieser Überlegung werden wir nun aber doch noch ans Thema der gesellschaftlichen Kohäsion herangeführt, bzw. ans Thema der gesellschaftlichen Brüche. 

Die Schrumpfung der kulturellen Ähnlichkeit der Bewohner der schweizerischen Landesgegenden ist gewiss geeignet, den oft beschworenen Zusammenhalt der Bevölkerung in Frage zu stellen. Die Sprachenfrage ist da nur ein Aspekt, wenn auch ein gewichtiger: sowohl Symptom als auch Ursache. In der Tat haben die verschiedenen Schichten und Gruppierungen, die die Bevölkerung bilden, immer weniger gemeinsam, je mehr sich ihre Grundorientierung an sich globalisierenden, auseinander driftenden Strömungen ausrichtet. An Gemeinsamkeiten bleiben da nur gerade noch die Grundgegebenheiten der allgemeinen Lebensverhältnisse: allgemeines politisches Klima, allgemeine Infrastruktur, allgemeine Konsumptionsverhältnisse. All das wird überlagert von mentalen Brüchen, mit der Folge gegenseitiger kalter Indifferenz bzw. heisslaufender blindwütiger Friktionen. 

Um so mehr fällt da in der mehrsprachigen kleinen Schweiz die Sprachenfrage ins Gewicht. Das Land zählt weniger Einwohner als das benachbarte deutsche Bundesland Baden-Württemberg, etwas mehr als 7 Millionen gegen 11 Millionen. Diese gut 7 Millionen sprechen aber ausser den auch hier gut vertretenen übrigen Weltsprachen vier verschiedene offizielle Landessprachen: Deutsch ca. 4,5 Millionen, Französisch wohl gut 1 Million, Italienisch vielleicht eine halbe Million und Rätoromanisch wohl etwa 50'000. Mental sind diese Sprachgruppen schon erheblich auseinander geraten. Die kulturellen Gewohnheiten der breiten Schichten orientieren sich an ganz unterschiedlichen Mustern, etwa im people-Bereich. Der erkennbare gemeinsame Bodensatz an globalisiertem Basisverhalten hingegen ist kulturell kaum gemeinschaftsbildend - wenn hüben und drüben McDonalds-Niveau auch sprachlich und gedanklich zur Gewohnheit wird, bringt das nichts für die gegenseitige Verständigung.

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Was die Schweizerinnen und Schweizer da noch zusammenhält, und zwar auf durchaus wirkungsvolle Weise, ist die den meisten gemeinsame Ablehnung ihrer europäischen Nachbarn. War eine solche Aversion noch vor Jahrzehnten auf die Deutschschweizer beschränkt, hat sie mittlerweile auch die Romands und die Tessiner erfasst, denn das vorübergehende, durchaus vorläufige wirtschaftliche Gefälle ist der Grund für nachbarschaftliche Reibereien, die Besorgnis erregende Ausmasse angenommen haben. Nur auf dieser Basis einer gemeinsamen Ablehnung der jeweiligen Nachbarn, nicht aufgrund einer gemeinsamen Grundlage, funktioniert die Schweiz noch als Ganzes. Das Land ist ein Phantom, das noch durch seine Aussenwelt per viam negationis zusammengehalten wird. Die giftigen Anti-EU-Kampagnen der rechtsradikalen SVP sind daher sozusagen systemerhaltend. Die Schweiz gleicht einem Junkie, der das Gift der Feindseligkeit gegen aussen braucht, um seinen inneren Bestand zu wahren. Der Vergiftungsprozess geht weiter, und es ist höchst wahrscheinlich, dass er böse enden wird: in wirtschaftlichem Niedergang und innerem Zerfall. Die Tenöre der SVP, die ja die bereits grassierende Sprachfaulheit hierzulande nach Kräften befördert, werden auch daraus ihren Profit ziehen.

 

Siehe auch meinen Vortrag von 2007 vor dem Rotary Club Konstanz zum Thema: Ist die Schweiz noch eine Willensnation?

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