"Angst fressen Seele auf": die Fratze des Bösen.

Bei der heutigen Konzentration der Sinnproduktion auf die jeweilige Gegenwart bleibt schliesslich nur noch diese selbst übrig: keine Vergangenheit mehr, bzw. nur noch eine verklärte, und keine Zukunft mehr, bzw. nur noch eine verstetigte Gegenwart. Nachdem die Säkularisierung unserer Gesellschaften das spirituelle Grundrauschen früherer Daseinsformen im materiellen Konsum abklingen liess, gedeiht nun eine armselige Respiritualisierung im Rückgriff auf Begriffshülsen der Vergangenheit: die Nation, das Christentum. "Verteidigung des Abendlandes" oder "Bollwerk unserer Lebensart gegen das Fremde" sind die Schlagworte. Die Globalisierung mit ihrer beschleunigten, durch schwere Konflikte befeuerten Mobilität mischt die Heimatfronten verstörter und immer böser werdender Bürgerinnen und Bürger gehörig auf. Die Banalität des Bösen zeigt erneut ihre Fratze: Eine Anführerin einer deutschen rechtspopulistischen Bewegung will an der Landesgrenze auf Flüchtlinge schiessen lassen, und in der Deutschschweiz publiziert ein Journalist und Verleger einen einfühlsamen Artikel über einen der führenden Mörder des Dritten Reiches.  

Die derzeitige Globalisierung wird verstärkt durch die Digitalisierung, die das Ihre zum gesteigerten Gegenwartsdruck beiträgt, durch die Omnipräsenz einer Unzahl global verfügbarer Informationen. Da erdet sich manche und mancher gerne im Nächstliegenden, ein fiktiver Innenraum des Eigenen wird phantasiert, die wachsende Komplexität der Reproduktion zivilisierten Lebens wird verdrängt. Immer mehr Wechsel auf die Zukunft werden gezogen, es regiert die kurze Frist. 

Womit wir bei der Angst sind. Angst vor der Zukunft. Alle in unseren Breitengraden wissen, offen oder heimlich, dass sie "über ihre Verhältnisse" leben, wirtschaftlich, ökologisch, auch "moralisch", nämlich auf Kosten anderer. Und sie fürchten, offen oder heimlich, die "Bestrafung" - nicht nur angesichts der rational zu erwartenden katastrophalen Folgen des eigenen Wirtschaftens, sondern auch aus einer tiefsitzenden Ahnung der Straffälligkeit des ausbeutenden Daseins heraus. Diese Ahnung zu leugnen hilft der Sündenbock, zu dem unsere Heimatfronten alles Fremde machen. Im Teufelskreis der Angstabwehr gefangen, werden die Leute bald einmal gewaltbereit. Denn die Gewalt entlädt in einem Augenblick, was sich in der Angst vor den Anderen angestaut hat, sie ist das irre Versprechen der Befreiung durch Beseitigung des Andern.

 

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